Interview

Ethan Zuckerman baute bereits 1995 ein Metaversum und sagt zu den Plänen von Mark Zuckerberg: «Facebook wird massive Schwierigkeiten bei der Moderation von Metaversen haben»

Ethan Zuckerman, ein führender Denker des Internets, äussert sich über Facebooks Pläne für virtuelle Räume und Desinformation als Generationenproblem.

Helene Laube, San Francisco 7 min
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Ethan Zuckerman, Cambridge, Massachusetts, USA.

Ethan Zuckerman, Cambridge, Massachusetts, USA.

Zuma / Imago

Mark Zuckerberg werde mit seinem grossen Plan für Facebooks Zukunft die Probleme der Gegenwart nicht lösen, sagt der Internetkenner Ethan Zuckerman. Im Gegenteil: Mit weltumspannenden Metaversen dürfte der in Meta umbenannte Konzern sich und der Welt eine Reihe neuer Probleme schaffen.

Herr Zuckerman, Sie haben neulich in einem Artikel geschrieben, Mark Zuckerberg wolle uns mit seinen Metaverse-Plänen von der Welt ablenken, die sein Konzern mit zerstört habe. Was an Zuckerbergs Ankündigung zu seinem Metaversum hat Sie zu dieser Einschätzung veranlasst?

Ich forsche zu sozialen Netzwerken. Dafür untersuche ich riesige Datensätze, um zu verstehen, was zig Millionen von Nutzern machen. Mit keiner Plattform ist die Zusammenarbeit für diese riesigen Datenanalysen so schwierig wie mit Facebook. Facebook beschäftigt mich also ständig. Vor Zuckerbergs Ankündigung kamen die Whistleblower-Enthüllungen von Frances Haugen zu Facebooks Umgang mit Falschinformationen, Hassreden, Extremismus, Gewalt. Diese Enthüllungen waren nicht wirklich neu für Leute wie mich. Aber sie bestätigen unsere Vermutungen, nämlich dass Facebook sich dieser Probleme bewusst ist und beim Umgang damit nur das absolute Minimum tut. Aber nicht das Metaversum-Video veranlasste mich, den Artikel zu schreiben. Den Ausschlag gab Zuckerbergs Ansage, einige Leute würden sagen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt sei, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Doch aus seiner Sicht werde es für viele Leute nie einen guten Zeitpunkt dafür geben.

Was hat Sie daran gestört?

Es war eine so massive Abqualifizierung all derer, die auf Facebooks Verantwortungslosigkeit und Probleme aufmerksam machen. Er sagte im Klartext: «Shut up, hört auf zu jammern, ich werde euch jetzt mal die Zukunft zeigen – ich bin ein Visionär, ihr nicht.» Diese Ansage hat meinen Tag ruiniert. Ich habe immer viel zu tun, aber ich habe alles liegen lassen, mir die Präsentation angeschaut und den Artikel verfasst. Wenn etwas so Ungeheuerliches in die Welt gesetzt wird, muss man reagieren.

Sie beschreiben Zuckerbergs Metaversum als langweilig. Derartige Zukunftsszenarien hätten sich schon unzählige Techies zuvor ausgemalt – meist besser. Ist mangelnde Originalität das Problem?

Nein. Facebook hat so viele Kräfte entfesselt, die das Unternehmen selber nicht begreift und von denen es nicht weiss, wie es sie in den Griff bekommen soll. Facebook schafft es jetzt schon nicht, die missbräuchliche Verwendung seiner Plattformen einzudämmen, vor allem werden die fürchterlichen Dinge, die Leute posten, erst nachträglich entfernt, wenn der Schaden bereits entstanden ist. Es wäre unglaublich unverantwortlich von Facebook, mit einem solchen Produkt eine Reihe neuer Probleme zu erschaffen. Das Unternehmen wird massive Schwierigkeiten bei der Moderation und Governance auf solchen neuen Plattformen haben. Es ist extrem schwierig, in einer virtuellen Welt die Balance zwischen Generativität – also einer Technologie, die die Schaffung neuartiger Produkte unterstützt – und Regierbarkeit zu erreichen.

Soziale Netzwerke sind Brandbeschleuniger für Verschwörungsmythen, Angriffe auf demokratische Institutionen und Radikalisierung. Können Sie sich noch eine Mässigung dieser Entwicklung vorstellen?

40 Prozent der Amerikaner glauben nicht, dass Biden Präsident ist. Wir können uns in diesem Land nicht mehr darauf einigen, was wahr ist. Diesen Zustand werden wir meines Erachtens nicht in den nächsten paar Jahren korrigieren. Das ist ein Generationenproblem. Politiker, Regulatoren, Wissenschafter und Aktivisten werden mindestens eine Generation benötigen, um Lösungen zu finden und den Schaden zu beheben, den soziale Netzwerke anrichten. Und das dachte ich, bevor Zuckerberg sein Metaversum ankündigte.

Ein von Millionen oder Milliarden Personen genutztes Metaversum würde diese Problematik also verschärfen?

Davon bin ich überzeugt. Gleichzeitig bin ich sicher, dass die Nutzer tolle Möglichkeiten schaffen werden, um Leute in Metaversen zusammenzubringen – und dass das zu mehr Verständnis füreinander denn je führen könnte. Aber es ist unmöglich, die Zukunft vorherzusagen. Als wir anfingen, partizipative Räume im Internet zu entwickeln, verkündeten Leute wie John Perry Barlow, dass Unternehmen sich nie im Cyberspace würden etablieren können, da dieser dezentralisiert und unabhängig sei. Heute beherrschen Alphabet, Facebook und ein paar andere Giganten das Internet. Auch sehr gescheite Leute machen sehr falsche Vorhersagen. Aber bisher wurde noch jede neue Technologie von den einen zum Friedensbringer für die Welt hochgejubelt – während andere erklären, warum sie uns den Verstand rauben und die Jugend umbringen wird.

Skepsis ist also angebracht. Zugleich sollten wir uns angesichts dieser noch nicht realisieren, virtuellen Welt nicht in etwas hineinsteigern.

Wir kämpfen mit legitimen und komplizierten Fragen über die Schäden, die soziale Netzwerke anrichten. Wir haben legitime und komplizierte Fragen darüber, ob von riesigen amerikanischen Unternehmen beherrschte partizipative Medien eine praktikable Idee sind, wenn diese Systeme von Milliarden von Personen auf der ganzen Welt genutzt werden. Dieses hohe Mass an Komplexität hält Leute wie mich auf Trab, ohne dass wir uns auch noch Gedanken über das Metaversum machen müssen.

Angesichts all der Probleme, der Kritik und der Untersuchungen im Hier und Jetzt – warum lässt sich Facebook auf das Abenteuer Metaversum ein?

Gängige Unternehmenslogik hilft uns meines Erachtens nicht weiter. Wäre Facebook ein normales Unternehmen – also eines mit einem Verwaltungsrat, der das Management kontrolliert –, wäre es angesichts der vielen Vorladungen in Untersuchungsausschüssen und der endlosen negativen Schlagzeilen wohl im Panikmodus. Vermutlich würde es den Start neuer Produkte zurückstellen. Aber Facebook ist kein normales Unternehmen. Facebook gehört zu einem bemerkenswert hohen Grad Zuckerberg. Er kontrolliert mit speziellen Aktien die Mehrheit der Stimmrechte, er bestimmt. Und Zuckerberg hält sich selbst für ein Genie. Er ist überzeugt, dass er die Welt irgendwie besser versteht als alle anderen. Und es ist bekannt, dass Zuckerberg der Meinung ist, dass Entwickler die Welt regieren und dass neue Technologien unvermeidlich sind. Ihn treibt aber sicher auch der Wunsch an, mit der Realisierung des Metaversums Facebooks Abhängigkeit von Apples iOS und Googles Android abzubauen.

Sie glauben also, dass Facebook ein ganzes Ökosystem bauen wird?

Es sieht ganz danach aus. Dann könnte Facebook die Hardware, das Betriebssystem, die Anwendungen, Online-Marktplätze und virtuellen Produkte sowie Werbung und Lizenzierungen kontrollieren.

Bisher war keine virtuelle Welt langfristig wirklich erfolgreich. Sie selbst haben 1995 ein Metaversum geschaffen, das Sie heute als «Müll» bezeichnen. Sind überzeugende Metaversen überhaupt möglich?

Der Journalist Clive Thompson hat ein gutes Stück darüber geschrieben, dass das Metaversum bereits hier ist – und es ist Minecraft. Junge Leute spielen, während sie mit Freunden videochatten und sich selbst auf Youtube streamen. Minecraft hat mehrere grosse Vorteile: Es versucht nicht, fotorealistisch zu sein, alles geschieht in einer Welt mit sehr geringer Auflösung. Das macht die Sache technisch viel einfacher. Minecraft lässt zudem zu, dass unterschiedliche Werkzeuge gewisse Aufgaben erledigen. Facetime kann beispielsweise für persönliche Gespräche verwendet werden, anstatt dass das Unternehmen . . .

. . . der Softwarekonzern Microsoft . . .

. . . versucht, alles selbst in das Spiel zu integrieren. Der wichtigste Aspekt ist jedoch, dass es keine einzelne gigantische Minecraft-Welt gibt, in der ausgehandelt werden muss, wie alle miteinander klarkommen. Jeder kann seinen eigenen Minecraft-Server starten. Mein Sohn betreibt seinen mit fünfzehn anderen 10- bis 13-Jährigen, die mit ihm spielen. Und wenn er ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt, steigen sie vermutlich auf einen anderen Server um. Das ist eine Art Governance-Mechanismus. Es gibt Minecraft-Server für Hunderte oder Tausende von Spielern, auf anderen spielen nur ein oder zwei Personen. Eine Welt also mit unzähligen Metaversen – keiner muss für alle entscheiden. Das erscheint mir als ein viel glaubwürdigeres Metaversum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Zuckerberg dies in der Facebook-Grössenordnung bewerkstelligen will, mit Milliarden von Nutzern. Wie findet man einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Vision, einen gemeinsamen Satz von Regeln und Prinzipien für das Miteinander so vieler unterschiedlicher Nutzer?

Liessen sich kleinere soziale Netzwerke oder auch virtuelle Welten auch für andere Communitys bauen?

Ich habe ein ganzes Forschungslabor, das sich mit dieser Idee beschäftigt: Könnten wir kleinere soziale Netzwerke haben, die von den Nutzern kontrolliert werden? Du wärst Mitglied in Dutzenden von unterschiedlichen Netzwerken für unterschiedliche Zwecke wie etwa deine Bibliothek, das Leben in deinem Quartier, für die Absolventen deiner Uni. Die Mitglieder wären für die Governance dieser Räume verantwortlich, sie müssten Verantwortung dafür übernehmen und aushandeln, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht.

Warum sollte die Grösse Einfluss auf Inhalte und Umgang haben, sie also zivilisierter machen?

Es gibt Beispiele kleinerer, sorgfältig moderierter Netzwerke, die besser funktionieren als weltumspannende Netzwerke. Wir führen Experimente durch, aber ich habe tatsächlich keine Beweise, dass es der bessere Weg ist. Aber meine Intuition sagt mir, dass wir erst einmal den globalen Massstab loswerden müssen. Wir reden hier von Netzwerken mit 50 bis 5000 Nutzern. Wir entwickeln Software und ein soziales Netzwerk namens Small Town, das wir in Kommunalverwaltungen hier in Massachusetts etwa bei Gemeindeversammlungen und öffentlichen Anhörungen einsetzen möchten. Es sollen stark moderierte Räume für bürgerschaftliche Diskussionen geschaffen werden.

Krempelt man damit den Status quo um und baut an der Zukunft?

Wir können dieses Territorium nicht Facebook und den anderen Technologiegiganten überlassen. Das ist das wahre Problem: Wenn das Metaversum wirklich eine interessante Idee ist, dann müssen viele Personen und Unternehmen an seiner Erschaffung beteiligt sein, nicht nur Zuckerberg. Und zudem müssen wir aufhören zu akzeptieren, dass Facebook zwingend die Zukunft ist. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als Yahoo – und davor AOL! – das Internet dominierte. Es gibt keine Garantie, dass Facebook in fünf Jahren noch existiert.

Zur Person:

Ethan Zuckerman ist ein führender Denker des Internets und sozialer Netzwerke. Der 48-Jährige erforscht unter anderem die Nutzung der Medien als Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel, die Rolle von Technologie bei der internationalen Entwicklung und wie Aktivisten neue Medientechnologien nutzen. Seit 2021 ist er Professor für Public Policy, Kommunikation und Information an der University of Massachusetts in Amherst. Er ist Mitgründer und Direktor der «Initiative for Digital Public Infrastructure» an der Universität. Das Forschungsinstitut untersucht die bürgerschaftliche und gesellschaftliche Rolle von Internetplattformen und macht sich für digitale Infrastrukturen stark, die Plattformen als öffentliche Räume und öffentliches Gut behandeln, nicht gewinnorientierte Projekte.

Von 2011 bis 2020 forschte Zuckerman am MIT Media Lab in Cambridge, Massachusetts. Ab 2016 war er Direktor des MIT Center for Civic Media im Media Lab. Als er im August 2019 von den engen – auch finanziellen – Verbindungen zwischen dem Media Lab und dem verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein erfuhr, kündigte er. Zum Ende des akademischen Jahres 2020 verliess der Amerikaner das Media Lab.

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